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"Religion? Habe ich nicht gelernt"

josef bruckmoser
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Wenn die religiöse Erziehung in Elternhaus und Schule fehlt, ist der Zugang zur Religion auch im späteren Alter schwieriger.Robert Ratzer ©robert ratzer

In den USA oder in Israel lösen religiöse Menschen Angst aus, "weil man mit denen nicht reden kann". In der Ex-DDR herrscht dagegen eine weitgehende Gleichgültigkeit vor. Ist das die Zukunft der Kirchen in Europa?

Die SN sprachen mit dem Leipziger Religionssoziologen Gert Pickel über die Zukunft der Religion.

Pickel: Phobie bedeutet, dass ich Angst vor etwas habe. Daher kann man über manche Vertreter des neuen Atheismus durchaus sagen, dass sie nicht nur eine Phobie vor einer bestimmten Religion haben, sondern vor jeder Religion. Ja, bei Dawkins und anderen herrscht eine ganz klare Abneigung gegen jedwede Religion vor. Diese Abneigung ist so stark, dass man sie auch als Angstzustand beschreiben kann. In den USA fühlen sich säkulare Menschen - die dort im Übrigen viel weniger sind als in Europa - von jeder Religion bedroht.

Umgekehrt könnte man bei sehr vielen religiösen Amerikanern auch von einer Art Atheismusphobie sprechen. Sie haben massive Angst vor Atheisten und Säkularen. So sehen sich über 50 Prozent der amerikanischen Christen zum Beispiel in einer Umfrage als durch den Atheismus bedroht an - mehr als durch den Islam übrigens. Auch in Israel sehen wir eine Polarisierung zwischen streng orthodoxen Gläubigen und dezidiert säkularen Staatsbürgern, die man als wechselseitige Phobie bezeichnen kann.

Man hat vor allem das Problem, dass man den anderen nicht versteht. Das macht Angst, weil dieses Nichtverstehen mit dem unangenehmen Gefühl verbunden ist, dass religiöse Menschen nicht rational argumentieren und sich auch nicht unbedingt durch rationale Argumente überzeugen lassen. Religiöse Menschen gelten als uneinsichtig, man könne mit ihnen nicht vernünftig reden, sobald sie sich auf ihre Religion berufen. Dahinter steckt das Bild einer sehr konservativen, ultraorthodoxen Religiosität. Dieses Bild wird dann auf Religion insgesamt übertragen: Sie sei nicht vernünftig und damit auch nicht berechenbar. Und was nicht berechenbar ist, macht einem Angst. Eine große Rolle. Man befürchtet, dass die Vertreter unterschiedlicher Religionen aufeinander einschlagen und sie damit alle in Mitleidenschaft ziehen - im Sinne eines "Kampfes der Kulturen", wie ihn Samuel Huntington beschrieben hat. Durch diese Unverbesserlichen, die sich auf Gott berufen und die keine Kompromisse kennen, gerät das säkularisierte europäische Weltbild unter Druck.

Diese Phobie, diese Angst vor dem Religiösen bezieht sich vornehmlich auf den Islam, sie wird aber auch gelegentlich auf das Christentum übertragen. Man sagt zwar, die Christen seien weniger gewalttätig, aber reden könne man mit ihnen auch ganz schlecht, vor allem, wenn es sich um evangelikale Gruppen oder um streng konservative Katholiken handelt.

Dazu kommt, dass Religion per se als etwas Antimodernes gilt. Man befürchtet, dass damit das Rad der Zeit zurückgedreht werde. Dabei geht es vor allem um Wertvorstellungen, Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit. Da ist die Sorge groß, dass Religion und Kirche zu enge Grenzen setzen und den Einzelnen übermäßig kontrollieren.

In Ostdeutschland ist es weniger eine strikte Ablehnung von Religion und Kirchen, sondern vielfach eher eine Gleichgültigkeit. Das könnte man durchaus so sehen. Viele sagen: Religion? Das hab ich nicht gelernt. Was dann heißt: Das ist für mich nicht anschlussfähig und ich brauche es auch nicht.

Dabei ist aber die Sichtweise von Christentum und Islam sehr unterschiedlich. Über Christen sagt man, o. k., ich brauche das nicht, aber sie sind ohnehin in der Minderheit. Sie stören nicht, solange sie nicht missionieren und uns in Ruhe lassen.

Dagegen wird der Islam sehr stark mit Gewalt in Verbindung gebracht - und solche Leute möchte man nicht in seiner Nähe haben.

Ja, das war in den Jahren nach dem Fall der Mauer deutlich zu sehen. Da hatten die Kirchen gemeint, sie könnten viele abgefallene Christen zurückgewinnen. Darauf haben die Ostdeutschen allergisch reagiert. Es gab an Schulen großen Streit, ob ein Religionsunterricht oder ein Ethikunterricht eingeführt werden soll oder am besten nichts davon. Das ist jetzt abgeklungen. Heute sagen beide Seiten, wenn ihr nicht vorprescht, dann tun wir es auch nicht.

Es gab in der DDR durch den gegenüber Religion sehr rigiden politischen Sozialismus eine Sonderentwicklung. Aber heute haben wir - ganz ohne sozialistischen Effekt - auch in den Niederlanden bereits 70 Prozent Konfessionslose. Säkularisierungsprozesse, die im Wesentlichen auf Gleichgültigkeit hinauslaufen, gibt es europaweit.

Man muss zumindest einmal darüber nachdenken. In Ostdeutschland könnte es jetzt zu einer gewissen Stabilisierung kommen - auf einem niedrigen Niveau von 20 Prozent, was man sich im christlichen Europa so nicht vorgestellt hat. Umfragen zeigen deutlich, dass ein Einbruch in der religiösen Sozialisation ein Kernelement für den Abbruch des Kirchenbezugs ist. Die Weitergabe des Glaubens im Elternhaus war immer der wichtigste Faktor. Den gibt es heute viel weniger.

Wer zu Hause von Religion gehört hat oder Ministrant war, wird auch mit 40 oder 50 Jahren religiös anschlussfähig sein, selbst wenn er kaum mehr in die Kirche geht. Die Kinder solcher Eltern wachsen aber bereits damit auf, dass das nicht so wichtig ist. Sie wundern sich, was Opa oder Oma daherreden.

Dazu kommt, dass man im öffentlichen Raum nicht mehr über Religion und die persönliche Religiosität spricht. Sich als religiös erkennen zu geben scheint den meisten irgendwie nicht mehr üblich.

Das ist sehr hart formuliert, aber eine der größten Stärken der Kirche war immer die Gemeinschaft. Die Bindung an Kirche läuft stark über Gemeinschaft, über das gemeinsame Feiern an gemeinsamen Orten nach gemeinsamen Riten. Wenn diese gemeinschaftsbildende Kraft wegfällt, dann läuft Religion auf jenen Minderheitenstatus zu, den wir in Ostdeutschland haben.

"Religion? Habe ich nicht gelernt" (JOSEF BRUCKMOSER )